Auf Grund des Erk VfSlg 18.446/2008 ist hinsichtlich der Tätigkeit und Kompetenz der Agrarbehörde zur rechtskräftigen Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse an agrargemeinschaftlichen Grundstücken Verwirrung entstanden. In einer ganzen Serie von Entscheidungen aus den Jahren 2010 und 2011 hat der Tiroler Landesagrarsenat die Auffassung vertreten, dass historische agrarbehördliche Entscheidungen, mit denen festgestellt wurde, dass die (nicht regulierte) Agrargemeinschaft Eigentümerin der agrargemeinschaftlich genutzten Grundstücke sei, „Gemeinschaftseigentum der Ortsgemeinde und der Nutzungsberechtigten“ entstehen ließen. Als „atypisches Gemeindegut“ würden solche Rechtsverhältnisse ein Anteilrecht der Ortsgemeinde auf den Substanzwert der Liegenschaften begründen.

Diese Entscheidungen knüpfen formal an das VfGH Erk Slg 18.446/2008 und die TFLG-Novelle 2010 an. Übersehen wird dabei jedoch, dass beide Rechtsgrundlagen insbesondere historisches Eigentum der Ortsgemeinde voraussetzen, dessen Existenz einen gültigen Eigentumstitel erfordert. Weil die Agrarbehörde distinktiv entschieden hat, wer Eigentümer ist, steht in all diesen Fällen jedoch fest, dass die Ortsgemeinde gerade keinen Eigentumstitel besaß und dementsprechend nie Eigentümerin war.

Die ewige Suche nach dem Recht, der Kampf für die Gerechtigkeit, sind ein Wesenselement des Rechtsstaates, der Grundsatz der Beachtlichkeit rechtskräftiger Staatsakte ist ein anderes nicht minder bedeutsames. § 14 Agrarverfahrensgesetz 1950, BGBl 173/1950 (AgrVG) lässt keinen Zweifel an den Rechtswirkungen der historischen Verfahrensergebnisse: Die Bescheide (Erkenntnisse) der Agrarbehörden und die von ihnen genehmigten Vergleiche (Übereinkommen) haben die Rechtswirkung gerichtlicher Urteile und gerichtlicher Vergleiche.

In einer Serie von gut einem Dutzend Erkenntnissen vom 30.6.2011 hat der Verwaltungsgerichtshof in dieser Streitfrage Position bezogen. Darin wurde die Rechtsposition der Agrargemeinschaften als zivilrechtliche Eigentümerinnen des Regulierungsgebietes klargestellt. Insoweit die historische Agrarbehörde bei der Entscheidung über Rechtsverhältnisse beim Zuständigkeitstatbestand für „Gemeindegut/Fraktionsgut“ angeknüpft haben, wurde dies jedoch als bescheidmäßige Feststellung ehemaligen Eigentums der Ortsgemeinde missverstanden. Für eine solche – im wahrsten Sinn des Wortes – „Unterstellung“ fehlt jedoch jede Rechtsgrundlage.

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Sonderbehörden im Rahmen der Bodenreform

Die Behörden in der Monarchie

Die Durchführung der drei Reichsrahmengesetze 1883, RGBl 92-94, wurde von Anfang an Besonderen Verwaltungsbehörden übertragen (§§ 6 ff des Gesetzes RGBl 1883/92; § 1 RGB l 1883/93; § 1 RGBl 1883/94), weil die bisherige Kompetenz der Zivilgerichte endlose Prozesse zur Folge hatte, aber keine sinnvolle Neuordnung der unsicheren Rechtsverhältnisse und agrarischen Bewirtschaftungsprobleme agrargemeinschaftlicher Grundstücke herbeiführen konnte. Als neue Behörden wurden in erster Instanz „Lokalkommissäre“, in zweiter Instanz „Landeskommissionen“ und in oberster Instanz eine „Ministerialkommission“ für agrarische Operationen eingerichtet, die organisatorisch mit den politischen Landesbehörden (Statthalterei bzw Landesregierung) und dem Ackerbauministerium verbunden waren. (Siehe dazu Oberhofer/Pernthaler, Das Gemeindegut als Regelungsgegenstand der historischen Bodenreformgesetzgebung, in: Kohl/Oberhofer/Pernthaler (Hg), Die Agrargemeinschaften von Tirol (2010) 207ff, 211ff, 221; Adamovich sen, Handbuch des österreichischen Verwaltungsrechts. Erster Band: Allgemeiner und formalrechtlicher Teil, 1954, 162)

Die neuen Sonderbehörden sollten auf Grund ihrer besonderen Organisationsstruktur Kenntnis der lokalen und regionalen Besonderheiten mit rechtlicher und fachlicher Sachkunde, aber auch Entscheidungsautorität einer „politischen Behörde“ verbinden. Auf Grund ihrer Unabhängigkeit und richterlichen Mitglieder waren die Entscheidungen der Landes- und Ministerialkommissionen von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes gemäß § 3 lit b des Gesetzes RGBl 36/1876 ausgeschlossen. Dafür kam den Entscheidungen („Erkenntnissen“) dieser Behörden und den von ihnen genehmigten Vergleichen die Rechtswirkungen richterlicher Erkenntnisse bzw Vergleiche zu, die unmittelbar vollstreckbar waren. (Pernthaler, Die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag (1977) 18; diese Beschränkung der Verwaltungsgerichtskontrolle wurde erst durch § 8 der Agrarbehördengesetznovelle 1974, BGBl 476 beseitigt; § 7 RGBl 1883/92)

Die sehr begrenzten Ausnahmen von der Allzuständigkeit der Agrarbehörden in besonderen Eigentums- und Besitzstreitigkeiten zugunsten der ordentlichen Gerichtsbarkeit (§ 7 Abs 2 RGBl 1883/92; ebenso noch jetzt § 72 Abs 7 TFLG 1996) machen deutlich, dass die Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden sich von Anfang an auch auf die zivilrechtlichen Feststellungen und Entscheidungen in Eigentumsfragen der agrargemeinschaftlichen Grundstücke bezogen, die außerhalb der Verfahren der Bodenreform in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit fielen.

Organisatorische Neuregelung in der Republik

Schon vor dem Inkrafttreten der Bundesverfassung wurde die Organisation der Agrarbehörden neu geordnet; dies durch das Gesetz StGBl 1920/195. An die Stelle der „beeideten Lokalkommissäre“ traten „Agrarbezirksbehörden“, in den Ländern wurden „Agrarlandesbehörden“ und die „Agraroberbehörde“ beim Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft eingerichtet. Durch das Bundesgesetz, BGBl 1925/281, wurde diese Organisation der durch die B-VG-Novelle 1925 neu geordneten allgemeinen staatlichen Verwaltungen in den Ländern angepasst und durch das Bundesgesetz, BGBl 1937/133, in die noch heute geltende Organisation der Agrarbehörden umgewandelt: In erster Instanz ist die monokratisch organisierte Agrarbezirksbehörde als Sonder-Landesbehörde tätig, soweit die Landesgesetzgebung auf Grund der Ermächtigung des § 3 Abs 2 des Agrarbehördengesetzes 1950 nicht von der Einrichtung eigener Agrarbezirksbehörden absieht und ihre Aufgaben dem Amt der Landesregierung zuweist, was nach der Judikatur des VfGH verfassungsrechtlich unbedenklich sei, obwohl die Bundesverfassung dieses Amt eindeutig als unselbständiges Hilfsorgan der Landesbehörden konstruiert. (Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht³ (2009) Rz 294; VfGH Erk Slg 3681/1960 und Folgejudikatur; Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer² (1988) 369 ff hält diese Judikatur für unrichtig und daher die bundes- und landesgesetzlichen Regelungen über das Amt der Landesregierung als Agrarbehörde erster Instanz für verfassungswidrig. Vgl dazu auch die Literaturhinweise bei Antoniolli/Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht³, 1996, 434)

Während der deutschen Besetzung traten an die Stelle der österreichischen Vorschriften die Bestimmungen der Verordnung vom 16.2.1940, RGBl I, 367; durch die Kundmachung BGBl 1946/85 auf Grund des § 1 Abs 2 Rechts-Überleitungsgesetzes, StGBl 1945/6, wurden diese deutschen Rechtsvorschriften als aufgehoben erklärt und die ehemaligen österreichischen Vorschriften gemäß § 1 Abs 3 R-ÜG neuerlich in Geltung gesetzt. Dies, weil sie gemäß § 1 Abs 1 R-ÜG „mit den Grundsätzlichen einer echten Demokratie unvereinbar sind und dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widersprechen“; vgl dazu VfGH Erk Slg 4320/1962 über den Unterschied zwischen Polizeistaat und (dem österreichischen) Rechtsstaat. In der Fassung der Novelle BGBl 1947/179 wurden die ehemaligen österreichischen Vorschriften als „Agrarbehördengesetz 1950“, BGBl 1951/1 wiederverlautbart und novelliert (BGBl I 1999/191 und BGBl I 2006/113). (Die Landesausführungsgesetze – für Tirol: LGBl 1948/32 – zitiert H. Mayer, Das österreichische Bundesverfassungsrecht. Kurzkommentar4 (2007), Anhang B 9. (1039)

Die Einrichtungsvorschriften der republikanischen Verwaltungsorganisation hielten an der oben dargestellten kommissionellen Behördenstruktur mit quasi-richterlichen Unabhängigkeit der Senate fest, wie sie seit 1883 die Agrarbehörden auf Landesebene und bei der Zentralbehörde kennzeichnete. Das war schon deshalb erforderlich, weil sich weder am sachlichen Wirkungsbereich der „Bodenreform“ noch an der Kombination von zivilrechtlicher und verwaltungsbehördlicher Entscheidungsbefugnis – unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges – der Agrarbehörden irgendetwas änderte. Wie in der Folge noch ausführlich begründet wird, erfasste diese umfassende Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden seit den oben angeführten Reichsrahmengesetzen von 1883 unverändert bis heute als Kernkompetenz die Eigentumsfeststellung an agrargemeinschaftlichen Grundstücken sowohl bei Agrargemeinschaften im privaten Eigentum als auch beim Gemeindegut im Eigentum der Gemeinde. (Pernthaler, Eigentum am Gemeindegut, ZfV 2010, 376 f)

Verfassungsrechtliche Organisationsvorgaben

Die besondere Organisationsform der Agrarsenate war und ist die verfassungsrechtliche Voraussetzung für die volle zivilrechtliche Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden im Rahmen ihrer behördlichen Funktionen der Bodenreform. Dies galt für ihre ursprüngliche Einrichtung durch die Reformgesetze von 1883 und gilt in verstärktem Maße – für die derzeitige komplexe, europarechtlich geprägte Verfassungsrechtslage.

Agrarsenate als „eingreifende Verwaltungsjustiz“

Die Agrarsenate nach den Reformgesetzen von 1883 waren von Anfang an als „Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag“ von der Jurisdiktion des Verwaltungsgerichtshofes gemäß § 3 lit b des Gesetzes, RGBl 1873/36, ausgenommen. (VfSlg 1390/1931; 5741/1968; 6508/1971; Melichar, Verfassungsrechtliche Probleme des Agrarrechtes, JBl 1968, 287; Gatterbauer/Kaiser/Welan, Aspekte des österreichischen Flurverfassungsrechtes 1972, 39) Die Gründe für diese Sonderstellung lagen einerseits in der zivilrechtlichen Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden und die damit verbundene Ausnahme von der Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit von diesen speziellen „bürgerlichen Rechtssachen“. Andererseits schien mit dem Wesen der Verwaltungsaufgabe „Bodenreform“ nur die Form der „eingreifenden Verwaltungsjustiz“ vereinbar zu sein, die dem Verwaltungsgerichtshof als Kassationsgericht verwehrt war, hier aber wegen der komplexen verwaltungsrechtlichen und zivilrechtlichen Elemente der Bodenreform eine unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung war.
Gleichzeitig gingen sowohl die parlamentarischen Materialien des Errichtungsgesetzes (RGBl 1876/36) des Verwaltungsgerichtshofes als auch die zeitgenössische Rechtslehre davon aus, dass vom Verfahren und der Zusammensetzung der entscheidenden Organe gewährleistet sei, dass diese „Tribunale außer dem Verwaltungsgerichtshof und dem Reichsgericht eine Art verwaltungsgerichtlicher Jurisdiktion auszuüben berechtigt sind.“ (Vgl dazu die Regierungsvorlage und den Bericht der Kommission des Herrenhauses 148 und 197 der Blg zu den sten Prot d Herrenhauses VII. Session; Pann, Die Verwaltungs-Justiz in Österreich mit Bedachtnahme auf die auswärtige Gesetzgebung (1876) 19 und 70 f; Ulbrich, Lehrbuch des Österreichischen Staatsrechts (1883) 715; Lemayer, Österreichisches Staatswörterbuch, IV. Band (1909) 34)

Die Betrauung derartiger unabhängiger Kollegialbehörden mit einer „judiziellen Ingerenz auf dem Gebiet der Administration“ hatte im Bodenreformrecht auch eine lange Tradition. In den parlamentarischen Materialien zum Einrichtungsgesetz des Verwaltungsgerichtshofes von 1875 werden als bereits bestehende Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag die „Kommissionen zur Servitutenregulierung“ gemäß Kais. Patent vom 3.7.1853, RGBl 130, und in Rahmen der Lehensaufhebung gemäß RGBl 1862/103, 1868/8-10 und 1869/103-112 erwähnt.
„Eingreifende Verwaltungsjustiz“ im Sinne der Funktionen der Agrarbehörden in der Bodenreform setzt aber volle zivilrechtliche Kognitionsbefugnis der entscheidenden Senate voraus, weil anders die Ausschaltung der Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes und der Entscheidungsbefugnis der Zivilgerichte („ordentlicher Rechtsweg“) schon nach dem rechtsstaatlichen Standard der österreichischen Monarchie nicht erklärbar wäre. (Lemayer, Der Begriff des Rechtsschutzes im öffentlichen Rechte (Verwaltungsgerichtsbarkeit) im Zusammenhang der Wandlungen der Staatsauffassung betrachtet, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 29 (1902) 109 f unter Hinweis auf die Zusammenhänge und Unterschiede der Kollegialbehörden gegenüber der „landesfürstlichen Verwaltungsrechtspflege“)

Kassatorische Rechtskontrolle über die Agrarsenate

In einigen sehr frühen Entscheidungen des VfGH (Erk Slg 214, 633 und 637/1926; vgl auch VfSlg 10.080/1984) wurde klargestellt, dass die Agrarsenate zwar die Kriterien der Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag erfüllen – Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder, Unaufhebbarkeit der Erkenntnisse im Verwaltungsweg, Beteiligung richterlicher Organe – aber keine Gerichte im Sinne der Bundesverfassung („spezielle Verwaltungsgerichte“), sondern Verwaltungsbehörden im Sinne des Art 144 B-VG sind. Im Besonderen wurde in diesen Erkenntnissen auch der organisatorische Einfluss der maßgebenden Organe der Verwaltung oberster und mittlerer Instanz (Landeshauptmann und zuständiger Bundesminister) als Kriterium der Verwaltungsbehörde hervorgehoben.
Diese organisatorische Qualifikation der Agrarsenate hatte – in Verbindung mit der allgemeinen Kritik an den Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag – schließlich auch die Anordnung der Anfechtbarkeit ihrer Entscheidungen vor dem Verwaltungsgerichtshof zur Konsequenz und sollte im Zusammenhang damit zu den merkwürdigen politischen Vorgängen rund um die Beibehaltung des Art 133 Z 4 B-VG und die Novellierung der Art 12 Abs 2 und 20 Abs 2 B-VG in der B-VG-Novelle 1975 führen. (§ 8 AgrarbehördenG in der Fassung der Agrarbehördengesetznovelle 1974, BGBl 476)

An der vollen zivilrechtlichen Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden hat sich durch die (nur kassatorische) Rechtskontrolle durch den Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf die Erkenntnisse der Agrarsenate nichts geändert. Im Gegenteil! Wie sich im Folgenden erweisen wird, entspricht nur die Kombination der meritorischen zivilrechtlichen Entscheidungen der quasi-richterlichen Agrarsenate (als „eingreifende Verwaltungsjustiz“) mit der kassatorischen richterlichen Prüfung durch die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit den heute geltenden verfassungs- und europarechtlichen Voraussetzungen einer Sachentscheidung in zivilrechtlichen Angelegenheiten („bürgerlichen Rechtssachen“) durch Verwaltungsbehörden.

Agrarsenate als Tribunale gemäß Art 6 MRK

Die Auseinandersetzung um den Begriff „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ („civil rights and obligations“) und die daran geknüpften Garantien einer gerichtlichen Entscheidung in einem fairen Verfahren gemäß Art 6 EMRK beherrschten – vor allem seit dem Urteil des EGMR vom 16.7.1911 – die Auseinandersetzung zwischen der Judikatur des EuGH und der des VfGH und den unterschiedlichen Auffassungen der österreichischen Lehre. (Fall Ringeisen; Entscheidung: Yearbook of the European Convention on Human Rights 1971, 838ff; Vgl dazu Schäffer, Der Zivilrechtsbegriff der Menschenrechtskonvention, ÖJZ 1965, 511 ff; derselbe, Privatrecht und Gerichtsbarkeit, JBl 1965, 502 ff; H. Mayer, Zivilrechtsbegriff und Gerichtszuständigkeit, ZfV 1988, 473 ff; Berka, Die Grundrechte (1999) Rz 794 ff)

Während der VfGH ursprünglich einen sehr engen, an § 1 ABGB orientierten „strukturellen Zivilrechtsbegriff“ vertrat und etwa entschied, dass das Grundverkehrsrecht nicht unter Art 6 EMRK falle, weil hier öffentlichrechtliche Beschränkungen und keine „bürgerliche Rechtssache“ vorliege, prägte der EGMR einen sehr weiten Begriff der Garantie der „civil rights“ gemäß Art 6 EMRK, der auch alle öffentlichrechtlichen Auswirkungen auf vermögenswerte Rechte privater umfasste. (VfGH Erk Slg 6134/1970 ua; Zur Judikatur der europäischen Instanzen vgl die Hinweise bei Mayer (aaO) 474; Okresek, Die Organe der europäischen Menschenrechtskonvention vor neuen Herausforderungen, ÖJZ 1993, 329 ff; Mayer (aaO) 661 ff)
Der VfGH ist dieser weiten Begriffsbildung der „civil rights“ nicht gefolgt und hat in einer grundlegenden Entscheidung einen „gespaltenen Zivilrechtsbegriff“ in Österreich begründet: Das „traditionelle Zivilrecht im kontinental-europäischen Sinn“ stellt den „Kernbereich des Zivilrechts“ dar, der sowohl in Tatsachen- als auch in Rechtsfragen in die Entscheidungskompetenz der Gerichte fällt (volle richterliche Kognitionsbefugnis) Werden Verwaltungsbehörden in diesem zivilrechtlichen Kernbereich tätig, müssen diese den Garantien des Art 6 EMRK entsprechend organisiert sein und die dort gewährleisteten Verfahrensgarantien anwenden. (VfSlg 11.500/1986; dazu Pernthaler, Der Verfassungskern (1998) 56 f; Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1997) 73 ff; seitdem ständige Rechtsprechung: VfSlg 11.591/1987; 11.937/1988; 12.470/1990; 17.686/2003 ua; Berka (aaO) Rz 803; VfSlg 11.646/1988; 12.003/1989; 13.379/1994; VfGH Erk Slg 16.402/2001 ua)

Außerhalb des „zivilrechtlichen Kernbereiches“ genügt eine wirksame nachprüfende Kontrolle des verwaltungsbehördlichen Handelns durch ein Gericht, insbesondere durch den VwGH. In jüngster Zeit hat der VwGH die Auffassung vertreten, dass in bestimmten Fällen eine volle richterliche Kognitionsbefugnis gemäß Art 6 EMRK auch europarechtlich begründet sein kann und entgegenstehende nationale Beschränkungen auf eine bloß nachprüfende verwaltungsgerichtliche Kontrolle (beschränkte richterliche Kognitionsbefugnis) im Sinne des europarechtlichen Anwendungsvorranges verdrängt werden. (V. Madner, Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz, Anwendungsvorrang und zuständige gerichtliche Kontrollinstanz, ZfV 1/2011, 1ff).

Für die hier zu prüfende Frage der vollen zivilrechtlichen Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden hat diese neuere Judikatur des VfGH über den zivilrechtlichen Kernbereich folgende Konsequenzen: Da auch nach der neueren Rechtsprechung des VfGH klar ist, dass die mit Aufgaben der Bodenreform betrauten Behörden über zivilrechtliche Fragen zu befinden haben (VfSlg 5741/1968; 7284/1974; dies entspricht auch der Judikatur des EGMR, siehe Mayer (aaO) 663), muss – im Sinne der oben dargestellten „Kernbereichs-Judikatur“ – ein „Tribunal“ entsprechend den Garantien des Art 6 EMRK entscheiden, weil die ordentliche Gerichtsbarkeit im Bodenreformrecht ja ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen wird (§§ 72 und 73 TFLG 1996). Die Agrarsenate der Länder und des Bundes sind auf Grund der verfassungsrechtlichen Vorgaben in Art 20 Abs 2, 133 Z 4 und 12 Abs 2 B-VG und der gesetzlichen Einrichtungsnormen sicher als „Tribunale“ gemäß den Garantien des Art 6 MRK eingerichtet und damit als „Gerichte“ im Sinne dieser Norm und des Art 267 (Vorabentscheidungen) des AEUV (Vertrag von Lissabon) zu qualifizieren. (AgrarbehördenG 1950 und Landes-Ausführungsgesetze; VfGH Erk Slg 14.390/1995; 15.657/1999; Walter/Mayer/Kucsko-Stadelmayer, Bundes-Verfassungsrecht10 (2007) Rz 1534 ff)

Damit haben jedenfalls die Agrarsenate kraft Verfassungsrecht die volle richterliche Kognitionsbefugnis – wie die sonst zuständigen Zivilgerichte – in allen Rechtsfragen des Bodenreformrechts, welche materiell „bürgerliche Rechtssachen“ im Sinne des ABGB darstellen. Ein Ausschluss von dieser umfassenden zivilrechtlichen Kognitionsbefugnis – oder auch nur ihre sachliche und rechtliche Beschränkung – in Rechtsfragen, die das Gemeindegut betreffen, ist nirgends rechtlich festgelegt und wäre auch im Sinne der verstehenden Ausführungen verfassungswidrig und europarechtlich unzulässig. Soweit die Agrarbehörden erster Instanz als monokratisch organisierte Verwaltungsbehörden über Fragen des „zivilrechtlichen Kernbereiches“ entscheiden, ist dies mit Art 6 MRK deshalb vereinbar, weil gemäß Art 11 Abs 2 B-VG, letzter Halbsatz jedenfalls eine Berufung an den Landes-Agrarsenat zulässig sein muss. (Zur „vollen Kognitionsbefugnis sowohl in Tatsachen- als auch in Rechtsfragen“ der Tribunale nach Art 6 MRK siehe die Hinweise bei Walter/Mayer/Kucsko-Stadelmayer (aaO) Rz 1542, insbes die Entscheidungen des EGMR v 22.10.1984, Sramek, EuGRZ 1985, 336; v 23.10.1995 Gradinger, LÖJZ 1995, 954; v 20.12.2001 Baischer, ÖJZ 2002, 394; Neufassung durch die B-VG-Novelle 1975)

Zivilrechtlichen Kognition und Enteignung

Die den Agrarbehörden im Rahmen der Funktionen der Bodenreform übertragenen zivilrechtlichen Kognitionsbefugnisse stehen zwar im Rahmen einer Klärung und Neuordnung der agrarischen Rechtsverhältnisse und können im Rahmen dieser Entscheidungen auch zu Eigentumseingriffen führen, die verfassungsrechtlich zu beurteilen sind. (VfGH Erk v 10.12.2010, B 639/10 unter Hinweis auf frühere) Ausgeschlossen ist aber, dass der Gesetzgeber durch diese Eigentumseingriffe zu „Enteignungen“ im Sinne des Art 5 StGG und der ständigen Rechtsprechung des VfGH ermächtigt habe. Denn zum Wesen der Enteignung gehört, dass „eine Sache durch Verwaltungsakt oder unmittelbar durch Gesetz dem Eigentümer zwangsweise entzogen und auf den Staat, eine öffentliche Körperschaft oder eine gemeinnützige Unternehmung übertragen wird oder dass daran auf gleiche Weise fremde Rechte begründet werden“. (VfGH 1123/1928; 2934/1955 und Folgejudikatur; ebenso die herrschende Lehre, Berka (aaO) Rz 723 ff)

Im Rahmen der Bodenreform findet aber grundsätzlich keine Eigentumsübertragung oder Rechtsbegründung zur Erfüllung öffentlicher Verwaltungsaufgaben statt, weil das Ziel der Bodenreform die Neuordnung der Bodenbesitz-, Benützungs- und Bewirtschaftungsverhältnisse zur Verbesserung der privatnützigen Bewirtschaftung von agrargemeinschaftlichen Grundstücken ist. Entscheidungen der Agrarbehörde sollen daher primär die bestehenden Rechtsverhältnisse – einschließlich des Eigentums – wie ein Zivilgericht klären („feststellen“) und sodann eine planmäßige Neuordnung vornehmen, soweit dies zweckmäßig und erforderlich ist.

Auch diese Neuordnung soll die Rechte der Beteiligten wahren und soweit als möglich auf Grund von Parteienvereinbarungen erfolgen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des VfGH und VwGH über das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Eigentumseingriffen. (VfSlg 12.415/1990; § 75 Abs 4 TFLG; Berka (aaO) Rz 731 f) Denn: „Dieser Judikatur liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Eigentumseingriff nur dann im öffentlichen Interesse erforderlich sein kann, wenn eine privatrechtliche Einigung nicht möglich ist“. (VfGH Erk Slg 13.579/1993)

Wenn die Agrarbehörde also eine (konstitutive) Eigentumsfeststellung trifft, entzieht sie dadurch nicht Eigentum wie eine Enteignung – selbst wenn sie dieses Eigentum auf eine andere Rechtsperson überträgt –, sondern reguliert Eigentumsverhältnisse als eine Maßnahme der Bodenreform. Das bedeutet: Nur im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Regulierungsverfahren kann geklärt werden, ob eine Eigentumsübertragung überhaupt vorliegt und – wenn dies der Fall ist – ob der Eigentümerwechsel lediglich eine „Umgründung“ in eine Agrargemeinschaft als Körperschaft öffentlichen Rechts war oder der Übertragung des Eigentums eine Parteienvereinbarung zugrunde liegt, die der Regulierungsplan der Agrarbehörde berücksichtigte. (Zum konstitutiven Charakter der agrarbehördlichen Eigentumsfeststellung vgl VfSlg 17.779/2006 und besonders klar v 10.12.2010, B 639/10; vgl Raschauer, Rechtskraft und agrarische Operationen nach TFLG, in: Kohl/Oberhofer/Pernthaler, Die Agrargemeinschaften in Tirol, 2010, 265 ff, 278)
Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine umfassende zivilrechtliche Kognitionsbefugnis der Agrarbehörden im Rahmen der Aufgaben der Bodenreform entspricht die einfachgesetzliche Regelung der Eigentumsfeststellung bei agrargemeinschaftlichen Grundstücken seit den historischen „Reichsrahmengesetzen“ von 1893 über alle Gesetzesänderungen hinweg bis zur geltenden Rechtslage.

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aus:
Pernthaler/Oberhofer,
Die Agrargemeinschaften und die „agrarische Operation“

in: KOhl/Oberhofer/Pernthaler/Raber (Hg),
Die Agrargemeinschaften in Westösterreich, 429ff

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MP