cr

Dr. iur. ao. Univ.-Prof. Gerald Kohl, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien; Habilitation für die Fächer „Österreichische und europäische Rechtsgeschichte einschließlich Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ sowie „Europäische Privatrechtsentwicklung“.

Forschungsschwerpunkte: Privatrechtsgeschichte (Sachenrecht: Stockwerks- und Wohnungseigentum, Grundbuch, Jagdrecht), Verfassungsgeschichte (Parlamentarismus, Wahlrecht), Rechtsgeschichte der Agrargemeinschaften.

.

 

Interview mit ao. Univ.-Prof. Dr. Gerald Kohl, Universität Wien

GUT: Herr Univ.-Prof. Dr. Kohl, was sind die Ergebnisse Ihrer rechtshistorischen Forschungen zu den Nordtiroler Wäldern und Almen? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Die Forstregulierung 1847 hat die damals strittigen Eigentumsverhältnisse geklärt. Teils wurde ersessenes Privateigentum anerkannt, teils wurden Vergleiche zur Servitutenablösung geschlossen. Jene, die damals Nutzungsrechte an den landesfürstlichen Wäldern hatten, verzichteten auf diese Rechte und erhielten dafür gemeinschaftliches Privateigentum. Aus den dadurch großteils lastenfrei gewordenen Staatswäldern sind die Bundesforste in Nordtirol hervorgegangen.

GUT: Wie sind Gemeindewälder und Gemeindealmen entstanden? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: „Gemeinde“ ist ein historisch schillernder Begriff. Welcher Personenkreis sich hinter einer „Gemeinde“ verbirgt, ist von den in Frage kommenden Nutzungen abhängig und daher recht unterschiedlich – zum Beispiel bei Almen die Viehbesitzer, bei Wäldern die Feuerstättenbesitzer. Im Zuge der Forstregulierung 1847 trat an die Stelle des gemeinschaftlich genutzten Staatseigentums ein gemeinschaftlich genutztes Privateigentum. Für diese Gemeinschaften wurden mehrdeutige „Etiketten“ verwendet: „Gemeinde“, „Ortschaft“, „Fraktion“, „Nachbarschaft“ usw. Diese Bezeichnungen wurden auch bei der Grundbuchanlegung verwendet.

GUT: Warum haben sich die Berechtigten nicht dagegen gewehrt, dass eine „Gemeinde“ oder eine „Fraktion“ im Grundbuch eingetragen wurde? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Diese Gemeinschaften hatten sich zum Teil durch Jahrhunderte als „Gemeinde“ verstanden. Bis zum Ende der Monarchie waren in den Dörfern – abgesehen vom Lehrer und vom Pfarrer – praktisch nur die Besitzer von Grund und Boden, somit die heutigen Agrargemeinschaftsmitglieder, zur Gemeindevertretung wahlberechtigt. Solange sich die internen Verhältnisse nicht wesentlich änderten, gab es gar keinen Grund, sich von einem Selbstverständnis als „Gemeinde“ zu distanzieren.

GUT: Welche Eigentümerbezeichnung wäre richtigerweise bei der Grundbuchanlegung zu wählen gewesen? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Die Konstruktion „juristische Personen“, wie wir sie heute kennen, war bis in das 20. Jahrhundert herauf strittig. Man war eher der Auffassung, eine juristische Person bedürfe der Anerkennung durch den Staat, bevor sie am Rechtsleben teilnehmen könnte. Nach dieser Auffassung durften die Grundbuchkommissäre die agrarischen Gemeinschaften gar nicht im Grundbuch eintragen.

GUT: Wie haben sich diese Auffassungsunterschiede ausgewirkt? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Die agrarische Gesetzgebung begann in Tirol mit dem Teilungs- und Regulierungs-Landesgesetz von 1909. Das war aus der Sicht der Grundbuchanlegung viel zu spät. Die Stammliegenschaftsbesitzer hatten sich damals schon mit anderen Modellen beholfen: In Leoben wurde z. B. für eine Gemeinschaft von 152 Stammliegenschaftsbesitzern in den 1870er Jahren ein Verein gegründet, der dann auch als Grundeigentümer aufscheinen konnte. In Tirol behalf man sich eben mit dem Gemeindebegriff, für den mit der Gemeindeordnung eine gesetzliche Grundlage vorhanden zu sein schien.

GUT: Wurde die Ortsgemeinde zur Eigentümerin, wenn die Gemeindeordnung 1866 als Verwaltungsgrundlage gewählt worden ist?

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Nein. Eigentum bedarf eines Eigentumstitels. Die Tatsache, dass die Stammliegenschaftsbesitzer ihren Gemeinschaftsbesitz wie Gemeindeeigentum verwaltet haben, ist kein Eigentumstitel. In Böhmen fanden Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Eigentumsprozesse statt. Die Ortsgemeinden haben diese vor Gericht ausgetragenen Streitigkeiten sämtlich verloren. Damals galt in Böhmen – nicht anders als in Tirol – das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch. Die böhmischen Gerichtsentscheidungen sind deshalb auch für das Verständnis der Tiroler Rechtslage repräsentativ.

GUT: Hat nicht der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1982 die These vertreten, dass das Eigentum auf die heutigen Ortsgemeinden übergegangen sei? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Einen derartigen Eigentumsübergang hat es nie gegeben. Als in Österreich vor 150 Jahren die politischen Ortsgemeinden geschaffen wurden, bestand die Notwendigkeit, das Verhältnis zu den bereits früher bestandenen Gemeinschaften zu klären. Der Gesetzgeber entschied sich, die „privatrechtlichen Verhältnisse überhaupt und insbesondere die Eigentums- und Nutzungsrechte ganzer Klassen oder einzelner Glieder der Gemeinde ungeändert“ zu belassen. Diese Bestimmung findet sich genau so auch in der Tiroler Gemeindeordnung 1866 wieder.

GUT: Woraus erklärt sich der Irrtum des Verfassungsgerichtshofes? 

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Die Gemeindeordnungen haben eine Art Aufsichts- und Entscheidungsfunktion der politischen Gemeinden anerkannt, die quasi als Vorläufer der Agrarbehörden fungierten. Im Gegenzug sollte der „Überling“ aus der Nutzung der Gemeinschaftsliegenschaften in die Gemeindekasse fließen. Verständlich ist dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Umstände: Weitgehende personelle Identitäten und eine noch nicht erfolgte Konstituierung von Agrargemeinschaften als eigenständige Rechtspersönlichkeiten.

GUT: Eine weitere These des Verfassungsgerichtshofs war, dass das Gemeinderecht das „Gemeindegut“ als Eigentum der Ortsgemeinde definiert hätte. Was sagt ein Rechtshistoriker dazu?

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Eine solche These ist falsch und würde auf eine entschädigungslose Enteignung der historischen Gemeinschaften hinaus laufen. Das Gemeinderecht verschafft keinen Eigentumstitel für bestimmte Liegenschaften. Vielmehr müssen – und das hat ja auch der Verfassungsgerichtshof in anderem Zusammenhang im Jahr 2010 festgestellt – die Eigentumsverhältnisse jeweils im Einzelfall geprüft werden. Das haben die Agrarbehörden bei der Regulierung getan. Eine solche eingehende Prüfung konnte nur unterbleiben, wenn es eine Parteieneinigung gab. Dann wurde eben diese Vereinbarung in Bescheidform umgesetzt. Dies entspricht etwa einem gerichtlichen Vergleich.

GUT: Warum gibt es Ihrer Meinung nach heute in Tirol einen Agrarstreit?

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon stellte schon vor rund 400 Jahren fest: „Die Menschen glauben, dass ihr Geist dem Worte gebiete; aber oft kehren die Worte ihre Kraft gegen den Geist um.“ Deshalb behindert eine falsche Begrifflichkeit die Erkenntnis und provoziert Streitigkeiten. Und das ist in Tirol mit dem Wort „Gemeindegut“ passiert.

GUT: „Gemeindegut“ wird also als „Gemeindeeigentum“ missinterpretiert?

Ao. Univ.-Prof. Dr. Kohl: Ja. Die Kraft des Begriffs „Gemeindegut“ hat sich, um nochmals mit Bacon zu sprechen, gegen den Geist gekehrt. Die Kraft des Begriffs „Gemeindegut“ wird, wenn man sie der juristischen Kategorie der „Rechtskraft“ unterwirft, zu einer sich selbst legitimierenden Zwangsvorstellung, die sich einer wissenschaftlichen Überprüfung entzieht. Der Rechtsstaat und die Gerechtigkeit bleiben auf der Strecke.

Interview aus Gemeindegut. Unabhängiges Magazin für Tirolerinnen und Tiroler, Heft 2 / April 2013. MP